Für kaum eine Band ist es leicht, eine Studio-LP mit neuem Material als Nachfolger eines fulminanten Live-Albums zu produzieren, durch das sich geradezu zwangsläufig hochgesteckte Erwartungen an die nächste Veröffentlichung richten. Kraan hatten Ende 1974 im Berliner Quartier Latin ihr einfach mit „Live“ betiteltes Doppelalbum aufgenommen und damit ein akustisches Statement abgegeben, das zum Klassiker in der deutschen Rockmusiklandschaft wurde und auch heute noch geradezu legendären Status genießt. Kann die hierzulande 1975 erschienene „Let it out“ (Spiegelei / Intercord 26 542-1U) vor diesem Hintergrund überhaupt eine gute LP, vielleicht sogar ein weiteres Ausrufezeichen in ähnlicher Größenordnung sein?
Deutsche Pressung
Gängige Kraansche Praxis war es seinerzeit, neue Stücke durch ausgiebige Jam-Sessions zu erarbeiten, die im damaligen Wohnsitz der Band, einem Hofgut im westfälischen Wintrup, stattfanden und nahezu an der Tagesordnung waren. Die Gruppe betrachtete sich dabei aber nie als abgeschlossene Einheit, sondern war offen für Mitwirkung von außen, sprich: Nicht selten gaben hier Gastmusiker ihre Visitenkarte ab, so auch Ingo Bischoff, seines Zeichens zu jener Zeit Keyboarder bei Karthago. Das Zusammenspiel mit ihm gestaltete sich derart befruchtend, dass er reguläres Kraan-Mitglied wurde und “Let it out“ (somit) zur ersten LP der aus Ulm stammenden Band, auf der er mitwirkte.
Zweites Novum neben den Tasteninstrumenten war, dass die LP (bis auf ein Stück) nicht wie sonst üblich in einem professionellen Aufnahmestudio eingespielt wurde, sondern bei Kraan zu Hause, genauer: in den Stallungen des Hofguts. Wer nun meint, hier würde deswegen auch das etwas strengere Klangflair weiß gekalkter Wände mit ansetzendem Rost an den dicken Stahlringen für die Befestigung von Nutztieren vorherrschen, täuscht sich allerdings. Lediglich auf zwei oder drei Stücken lassen sich in Ansätzen ortsbedingte akustische Konzessionen vernehmen, die aber gerade aufgrund der ungewöhnlichen Location einen gewissen Charme besitzen und auch durchaus zur Musik passen.
Wie zu erwarten war, findet sich auch auf dieser LP vornehmlich jazzbeeinflusster Rock mit Wurzeln, die zwar noch nach Kraut schmecken, aber im Vergleich zu vielem, was die Gruppe vorher veröffentlicht hat, moderner klingen und auch frischer wirken als das Meiste aus dem Genre überhaupt damals. Fast hätte ich gesagt: „Let it out“ hört sich internationaler an, nicht zuletzt oder auch gerade wegen Ingo Bischofs Keyboards, die treff- und stilsicher in den Gesamtsound der Band integriert wurden. Typisch für Kraan ist auch auf der vorliegenden LP wieder der Klang der Saiteninstrumente. Sowohl Peter Wolbrandts Gitarren- als auch (natürlich) Hellmut Hattlers Basssound haben äußerst hohen Wiedererkennungswert, obwohl auch hier Fender Telecaster, Epiphone Riviera und Rickenbacker 4001 nichts anderes als Serienware von der Stange sind. Signature Sounds nennt man sowas heutzutage. Gegeben hat es das damals schon und Kraan wäre ohne sie nicht Kraan.
Es fällt schwer, bestimmte Titel aus der LP zu favorisieren. Zu sehr bieten beide Seiten überaus Hörenswertes. Etwas aus dem gewohnten Rahmen fällt das experimentell-psychedelische „Die Maschine“, was sich jedoch auf den Fluss des Ganzen nicht nachteilig auswirkt, während „Prima Klima“ sich beinahe schon wie ein Outtake aus Zappas „Hot Rats“ anhört. Und was wäre ein schönerer Schlusstitel als „Picnic International“ mit sich abwechselnden Soli, bei denen Peter Wolbrandt mit einigen der „coolsten“ Jazz-Phrasierungen aufwartet, die je ein deutscher Gitarrist in 45 Sekunden untergebracht hat.
Tja, als wäre das nicht schon des Guten genug, gibt es da noch von einem echten Schmankerl zu berichten, der amerikanischen Ausgabe der LP (Passport Records PPSD-98015). Kraan sind im Mutterland des Rock´n´Roll nie groß rausgekommen, nicht nur aufgrund damaliger ideologischer Vorbehalte der Band. Dennoch wurde auch „Let it out“ dort veröffentlicht und unterscheidet sich als US-Fassung nicht nur äußerlich (den orangefarbenen Schriftzug auf dem Frontcover) von der hiesigen Ausgabe. Nein, es kommt noch wesentlich besser: Die vier Stücke der A-Seite sowie das Titelstück auf der B-Seite wurden im Sommer 1976 in New Jersey neu (d.h. anders) abgemischt und weichen dadurch mitunter auffällig von den ursprünglichen deutschen Versionen ab – genau das Richtige also für einen AAA-Moderator, der sich auch noch mit den letzten Differenzen im Molekularbereich bei unterschiedlichen Pressungen ein und derselben LP rumzuschlagen scheint.
Gottlob wurde beim Neuabmischen auf eine Amerikanisierung der fraglichen Stücke verzichtet. Wintrup blieb in Wintrup und zog nicht zu Phil Spector um. Wer Näheres zu der Angelegenheit erfahren möchte: Erst hier klicken, anschließend oben auf „Albums“ und dann etwas runterscrollen.
US-Version
Im direkten Klangvergleich kann (trotzdem) keine der beiden A-Seiten grundlegende Vorteile für sich verbuchen. „Anders“ ist hier weder eindeutig mit „besser“ noch mit „schlechter“ gleichzusetzen. Während Selbiges auch noch für das Titelstück gilt, das in den USA leider um sein Intro gekürzt wurde, hört sich der Rest der B-Seite auf der deutschen Pressung doch etwas besser an.
Die Texte spielen seit jeher bei Kraan eine eher untergeordnete Rolle. „Let it out“ macht hier keine Ausnahme. Gerade mal drei Titel sind nicht rein instrumental, auf einem weiteren („Die Maschine“) wird nur gesprochen, und das, was Peter Wolbrandt singt, hat kaum inhaltlichen Tiefgang. Um es netter zu formulieren: Kraan-Lyrics kommen gänzlich ohne teutonische Schwere aus. Aber die braucht es in dem Genre, in dem die Band sich bewegt, auch nicht zwingend. Die Stücke leben von der Musik selbst – und die ist auf „Let it out“ schlicht umwerfend gut und macht die Platte zu einem mehr als würdigen Nachfolger des ´74er Live-Doppelabums.
Analoge Grüße
Achim