Zu den aufgekommenen Fragen antworte ich in einem fortlaufenden Text, der an diversen Stellen bricht. Alles hängt aber mit allem zusammen, würde ich weiter in die Tiefe gehen, nähmen die bereits endlosen Zeilen Dissertationsgrößenordnung an.
Literatur nenne ich auf Nachfrage für die einzelnen Segmente gerne. Nachdem nach dem Vehikel der Raumwahrnehmung gefragt war, geht meine Antwort nun leider nicht ohne Rekurs auf technisch-physikalisch-musikalische Phänomene ab. Auch ohne meine Beteiligung hatte der thread schon acht Seiten gefüllt, ohne dass irgendetwas geklärt worden wäre.
Meine beiden per Link zitierten Texte in anderen Foren legen dar, dass das menschliche Gehör zur Abschätzung einer erlebten räumlichen Tiefe als Teilnehmer an einem akustischen Ereignis die seitlichen Reflexionen eines Raumes heranzieht. Diese kommen in einem Raum naturgegeben von der Seite (sonst hießen sie nicht so), ja. Genau da ist aber das menschliche Gehör besonders wenig entscheidungsfähig, weil nur von der individuellen Form der Ohrmuschel des jeweiligen Hörers abhängig. Natürlich spielen auch raumbedingte, spektrale Eigenschaften/Besonderheiten dieser Signale eine gewisse Rolle. Diese aber sind vom individuellen Raum und vom darin gewählten (oder zugewiesenen) individuellen Standort des Hörers abhängig. Halbwegs belastbar wird die Sache daher erst bei der "vornehmsten" Eigenschaft dieser seitlichen Reflexionen, nämlich der, nicht korreliert zu sein, womit wir mindestens zwei Übertragungskanäle benötigen, um 'so etwas' medial darstellen zu können.
Das menschliche Gehör lernt in den ersten Lebenswochen und -monaten mit dem "Gesetz der ersten Wellenfront" (Detektion der Einfallsrichtung) ebenso virtuos wie mit dem (natürlich auch pegelmäßigen) Anteil nicht korrelierter Reflexionssignale umzugehen, die nach der ersten Wellenfront und den frühen diskreten Reflexionen rasant über der Zeit in Häufigkeit und Dichte zunehmend am Hörort einfallen. Hebt man bei einer Aufnahme den Pegel nicht korrelierter Signale (für das Ohr glaubwürdig!) an (dafür müssen die Reflexionen allerdings erstmal da sein, bei koinzidenten X/Y-Techniken -und Blumlein und MS sind ebenfalls koinzidente Techniken- gibt es per definitionem keine Laufzeiten, sondern nur hoch korrelierte Signale), nehmen die raumbezüglichen Informationen und damit die Raumsuggestion für das Ohr zu. Die besagte Glaubwürdigkeit ist wichtig, weil das Ohr bei jeder medialen Wiedergabe mit schlafwandlerischer Sicherheit erkennt, dass es sich bei der Wiedergabe um keine Realität handeln kann. Günther Theile hat dies in seiner Dissertation vor über dreißig Jahren überzeugend herausgearbeitet. Das Ohr vergleicht das medial vermittelte Signal mit den im Gehirn gespeicherten (gelernten) Erfahrungsmustern und stellt fest, dass dieser Vergleich mehr oder weniger überzeugend 'so klingt wie ....'. Wirkt die mediale Wiedergabe sehr überzeugend, spricht man von einer guten Aufnahme, gibt es Grenzen von einer weniger guten... Die akzeptierte Bandbreite ist sehr hoch (was übrigens mutatis mutandis auch der Grund für die unterschiedlichen Musikgeschmacksrichtungen ist!).
Ansonsten bitte nicht vergessen: Lautsprecher liegen in Ebenen, Raumdarstellungen sind zwangsläufig eigentlich an drei Dimensionen gebunden. Wenn also mit zwei Dimensionen eine Dreidimensionalität dargestellt werden kann, muss es sich dabei um eine Suggestion handeln.
Weiterhin: Wir sprechen über Raumdarstellungen. Diese sind mit einem einkanaligen Mikrofon nicht möglich. Auch hier kann man natürlich mit Suggestionen arbeiten; diese jedoch scheitern im Grunde an ihrer kümmerlichen Qualität, wenn man die Möglichkeiten im Vergleich einer (zweikanaligen) MS- bzw. XY-Aufnahme mit einer gut eingerichteten A-B-Aufnahme heranzieht. Nachdem bei konsequentem Anspruch lediglich zwei- (und mehr-) kanalige Aufzeichnungen stereofonen und damit Raum beschreibenden Charakter ordentlicher Ansprüche realisieren können, spreche ich im Rahmen meiner (und meiner Kollegen) Definition von 'Raumdarstellungen' NUR bei stereofonen Aufzeichnungen, die wenigstens ein Hauptmikrofonpaar als Lieferant einer stereofonen Orientierungsgröße aufweisen.
Ein Snare- oder Drum-Mikro kann ohne weiteres als Kugel angelegt werden, hat aber ohne seinen Kompagnon vom zweiten Kanal im Rahmen stereofoner Raumvorstellungen keine Möglichkeit, Räume abzubilden, weil ein nicht-korreliertes Signal nicht ausgebildet werden kann. Ein Stützmikrofon ist keine Stereogruppe und hat völlig andere Aufgaben, die gerade in der Ausschaltung dessen liegen, was in irgendeiner Form mit "Raum" zu tun haben könnte: Dem Indirektschall. ich weiß sehr wohl, dass der Übergang zwischen einer Haupt-Stützmikrofonaufnahme und einer reinen polymikrofonischen, hauptmikrofonfreien Aufnahme fließend ist, denn ich kenne die Vorstellungen meines Freundes Eberhard Sengpiel recht genau. ich verzichte aber im vorliegenden Zusammenhang auf die Darstellung dieses komplizierenden Phänomens.
Weiterhin gilt natürlich, dass heute, namentlich seit auch die Nieren über die letzten dreißig Jahre qualitativ deutlich aufgeholt haben, keineswegs auf Druckgradienten- und Gradientenmikrofone (Nieren und Achten nebst Zwischenformen) verzichtet werden kann. Nur sind sie heute primär als Stützen im Einsatz, weil auf den Speicher bezüglich des technisch erzwungenen, vergleichsweise hohen Korrelationsgrades keine Rücksicht mehr genommen werden muss (vgl. schwarze Platte). Dass heute die Laufzeitstereofonien in der stereofonen Aufzeichnungstechnik überwiegen, lässt sich an Konzertsaalfotovergleichen zwischen 1970 und 2010 problemlos belegen. Das damals 1970 allerorten und vielfach herumhängende SM69 fehlt heute völlig.
Das Kugelmikrofon ist außerdem technisch eindeutig konzipiert, daher technisch überschaubar, außerordentlich verfärbungsarm zu konstruieren und dem menschlichen Gehör verwandt. Man kann es weitgehend ohne Kompromisse optimieren, was unter anderem zur Folge hat, dass Kugelmikros gleicher Qualitätsklasse (und Empfindlichkeit), aber unterschiedlicher Hersteller notfalls als eine (nur AB-)Stereogruppe eingesetzt werden können. Bei Nieren ist so etwas -abgesehen von kuriosen Sonderfällen undenkbar. Nieren verfärben prinzipbedingt immer, da sie ein keineswegs lineares Polardiagramm besitzen (können) und daher als Konstruktion auf dem Kompromisswege optimiert werden müssen. Mit etwas musikalischem und technischem Sachverstand kann man deshalb die Vorlieben eines Mikrofonkonstrukteurs 'verorten', weil er mit 'seiner Musik' nämlich sein Kind auf Praxistauglichkeit seiner Optimierungsmaßnahmen prüft. Und da gibt es bei Jörg Wuttke und Martin Schneider (und seinem Neumann-Vorfahren Dr. Boré) eben gewisse Unterschiede.
Abschließend erinnere ich daran, dass die neuzeitlichen Produktionsbedingungen und -Vorstellungen von Pop-Musik vom spurweise sukzessiven, faktisch raumlosen Aufnahmeverfahren einzelner Ereignisse ausgehen. Raumdarstellungen hier von vorneherein einzubeziehen wäre hinderlich, ja kontraproduktiv, weil der jeweilige Titel in der Regel durch intensivste Nacharbeit nach Abschluss der Aufnahme entsteht. Wo, wie, wann und warum dabei dann Raumsuggestionen hilfreich bzw. notwendig werden, um den musikalischen Satz ans Laufen zu bekommen, entscheidet sich beim Abmischprozess, der bei Pop-Musik den Aufnahmeaufwand leicht übersteigen kann. Aber das deutete ich oben ja schon an.
Ich habe über mein mittlerweile langes Leben, das noch mitten in der Monozeit begann, "Füllschrift nach Eduard Rhein", HiFi und Stereo erst lernen musste (obwohl ich zu den besonderen Kennern der Enstehungs- und Produktionsumstände der besagten 'Frühstereos' von 1943/44 gehöre) und im Surroundverhau zuende gehen wird, immer sorgsam darauf geachtet, was mein Gehör im natürlichen, medialen und im technisch limitierenden (bzw. limitierten) Rahmen konstatierte. ich wollte wissen, wie mein Ohr mit einem Konzert, (s)einer Wiedergabe per Medium und den Engpässen dieses Mediums (das war bei mir -auch beruflich- länger die LP) umgeht. Auch wenn ich mit den genannten David Griesinger, Jens Blauert oder Günther Theile nebst manchem bedeutenden Vorläufer keineswegs immer eing ging, man traf sich gesprächsweise doch immer wieder bei den durchaus abenteuerlichen Eigentümlichkeiten des menschlichen Hörens, die allesamt Grundvoraussetzungen unserer musikalisch-künstlerischen und medialen Wahrnehmungsfähigkeiten sind:: Ohne Maskierung keine Instrumentation! Oder anders herum: Dem Gehörssinn ist Objektivität weitestgehend fremd, sieht man davon ab, dass die Gehörseigenschaften des Menschen über alle Kulturen praktisch gleich sind. Bachs H-Moll-Messe spricht auch einen agnostischen Chinesen an, so weit ab er unserer Kultur stehen mag. Er hört aber entlang derselben psychoakustischen Parameter wie wir
Befasst euch daher bitte, gerade wenn euch historische Techniken am Herzen liegen, mit den Hintergründen und Engpässen der Hörens und der vermittelnden, also medialen Technik, sowie der oftmals trickreichen (besser psychoakustisch legitimierten) Bewältigung dieser Engpässe. Dafür sollte man die Engpässe des Mediums ebenso wie die menschliche Psychoakustik kennen. Mir fiel darüber hinaus die Freundschaft mit manchen Pionieren zu, die man auch noch persönlich fragen konnte und teilweise noch immer fragen kann, obgleich ihre Technik heute nicht mehr ‚state of the art’ ist....
Hans-Joachim